Heil

Der Engel steht am Fenster, während du darüber nachdenkst, dass dieses Weihnachten ein Desaster werden wird. Du hast keinen Baum, die Christbaumkugeln hat dein Mann mitgenommen, der jetzt dein Exmann ist, und eine heile Familie hast du dementsprechend auch nicht vorzuweisen. Nichts ist wie in der Schokoladenwerbung, wo Mädchen mit samtenen Schleifen in die Kamera strahlen. Nicht, dass das in den vergangenen Jahren so gewesen wäre. Aber immerhin konntest du so tun, als ob, und in manchen Augenblicken fühlte es sich auch wahr an.

„An Weihnachten soll alles gut sein“, seufzt du und der Engel entgegnet: „Wer sagt das?“

„Gott“, erwiderst du trotzig.

„Hm, lass mal sehen“, beginnt der Engel, „Gottes erstes Weihnachtsfest fand obdachlos statt und in ungeklärten familiären Verhältnissen. Als Gäste kamen ein paar Hirten. Die gehörten damals zu dem, was man heute Randgruppe nennt. Wenn ich mich recht entsinne, kannten die Gastgeber sie nicht mal. Später gesellten sich noch ein paar Ausländer dazu, die behaupteten, Wahrsager zu sein. Von Bewirtung ist keine Rede, obwohl ein paar der Gäste sogar Geschenke dabei hatten. Kurz nach den Feiertagen musste die heile, entschuldige heilige, Familie fliehen, weil sie aus politischen Gründen verfolgt wurde. Die ruhigen Tage zwischen den Jahren fielen also aus. Nach heiler Welt klingt das nicht.“

Du schaust den Engel verständnislos an. „Und was willst du damit sagen? Ist das Gottes Vorstellung von einer heiligen Nacht?“

„Heilig heißt nicht heil.“

„Ich will es aber heil. Mindestens an Weihnachten. Ich brauche einen Notfallplan. Ich brauche konkrete Vorschläge, wie man mit so einer Situation am besten umgeht. Ich brauche die zehn besten Tipps für Weihnachten in Krisenzeiten.“

„Brauchst du nicht. Das einzige, was du brauchst, ist Vertrauen. Vertrauen, dass alles gut werden kann. Auch ohne Christbaumkugeln und Wunschfamilie. Und genau das ist das Geschenk dieser Nacht. Kurz gesagt: Mach dich locker.“

Du schnappst nach Luft und willst dich empören, aber er hält dich zurück.

„Schau“, beschwichtigt er, „was erzählt diese Geschichte denn sonst, wenn nicht, dass das Leben auch unter den widrigsten Umständen weiter geht? Gott ist ein Mitläufer. Er ist dabei, egal wo. Er sitzt an deinem Tisch. Er wählt nicht die üppigste Tafel und nicht die glücklichsten Kinderaugen. Er ist da wie dort. Gib, was du kannst. Nimm, was da ist. Das reicht. Frohe Weihnachten!“

 

 

 

(erschienen in Blick Magazin (gekürzt), Dezember 2013)

 

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