Dies ist mein Engelimbiss. Hier schreibe ich von Gott und der Welt. Halbfertiges und Angedachtes, je nachdem.
Den "Engelimbiss" gibt es wirklich. Dort, wo Hamburg Richtung Nordsee zeigt, gibt es die besten Pommes mit allerschönstem Elbblick. Ich finde, Texte für die Seele sollen genauso schmecken: wie gute Pommes.
Als Frau Meckelbach aufersteht, blühen die Narzissen. Im Grab ist es zu eng. Frau Meckelbach, litt Zeit ihres Lebens an einer leichten Form von Platzangst. Sie verlässt den Sarg und staunt, wie das möglich ist. Schließlich hat Egon massive Eiche gewählt, das, fand er, war er seiner Gattin schuldig. Und dann liegt ja auch noch eine Tonne Erde über ihr, ein unter normalen Umständen beängstigender Gedanke. Aber normal ist nichts mehr. Frau Meckelbach gleitet hinaus, ins Freie, ihren Körper lässt sie zurück. Ein kurzes Bedauern flammt in ihr auf, denn schließlich waren sie lange miteinander unterwegs gewesen. Andererseits gehörte Frau Meckelbach nie zu denen, die jedes Kleid aufheben müssen, weil es ja sein könnte, dass man es noch mal tragen würde. Nach einer Diät. Oder wenn die Mode wechselt. Frau Meckelbach braucht ihren Körper nicht mehr. Frau Meckel wird nie wieder Diät machen, sie atmet auf. Atmen funktioniert überraschenderweise. In ihrem Inneren ist ein so ungeheurer Drang nach Luft. Frühlingsluft. Sie saugt sie in sich ein, dass sie zu schweben beginnt, hinauf, hinauf, bis an die Grenzen der Vorstellungskraft. Und darüber hinaus.
Morgens um halb zehn geht das Volk auf die Straße. Morgens um halb zehn sieht Herr Müller rot. Herr Müller ist wütend und brüllt. Zusammen mit den anderen. Hat einen Galgen gebaut, hat Bilder von Politikern drangehängt. Herr Müller ist enttäuscht, fühlt sich verraten und verkauft. Sein Gesicht ist hassverzerrt. Dabei ist er sonst ganz lieb und geht sonntags mit den Kindern in den Zoo. Herr Müller kann tausend Namen haben, Hans-Martin oder Kevin. Bill oder Claudia oder Salim.
Herr Müller lebt überall auf der Welt. Herr Müller ist tausend mal tausend Jahre alt. Herr Müller war auch damals dabei, an jenem Freitag und hat Jesus durch die Straßen getrieben, hat geschrien: „Tötet ihn! Tötet ihn!“ Damals hieß Herr Müller vielleicht Hanna oder Thomas. Herr Müller kannte Jesus nicht persönlich. Anfangs fand er ihn ganz gut. Weil der gesagt hat: „Ich ändere was. Echt. Himmel auf Erden, die Letzten werden die Ersten sein!“
In Herrn Müller war so eine Sehnsucht nach Gerechtigkeit, wobei er das nie so formuliert hätte. Aber dass etwas falsch läuft, das war eindeutig. Damals und heute und immer wieder: Die Reichen sind zu reich und die Armen zu arm. Die Mächtigen sind zu mächtig, und einer wie Herr Müller ist zu ohnmächtig. Und diese Ohnmacht, die macht ihn rasend. Und deshalb hat er zugehört, als Jesus redete. Hat an seinen Lippen gehangen und gesehen, wie 5000 Leute mucksmäuschenstill waren und satt wurden. Leute wie er. Ganz normale Leute.
Und jetzt läuft Herr Müller durch die Straßen und schreit. Wie konnte es bloß soweit kommen?
2000 Jahre und einen Tag zurück. Donnerstagmorgen:
Judas hat sich entschieden. Irgendwer muss handeln. Immer nur reden, reden, reden. Das führt zu nichts. Judas ist kein Hitzkopf und auch kein böser Mensch. Aber in seinem Bauch brodelt es. Judas
lebt in einem besetzten Land. Steuern und Zölle sind hoch. Die Korruption blüht. Immer wieder gibt es Aufstände, die brutal niedergeschlagen werden. Propheten versprechen ein neues
Zeitalter.
Einer dieser Propheten ist Jesus. Ihm hat Judas sich angeschlossen. Und jetzt ist er enttäuscht, genau wie Herr Müller. „Jesus?“, würde er sagen, wenn wir ihn fragen könnten. „Ist genau wie alle
anderen. Nichts als leere Versprechen.“ Dabei hatte er von ganzem Herzen an ihn geglaubt. Dass eine andere Welt möglich sei. Judas wollte den Umsturz der Verhältnisse. Wollte die Besatzer zum
Teufel jagen. Wollte, dass etwas ganz Großes passiert. Etwas, das alles ändert.
Jetzt ist Schluss. Jetzt nimmt er die Sache selbst in die Hand. Judas verrät, wo Jesus sich aufhalten wird in dieser Nacht. Verrät, wo sie essen werden, verrät, was er liebt. Kassiert ein
Säckchen Silber dafür (aber es geht ihm nicht ums Geld). Judas verrät Jesus und setzt auf Eskalation. Damit Jesus zeigen kann, wer er wirklich ist. Damit der Sturm losbricht.
Donnerstagabend:
Die Kerzen brennen noch. Noch schimmert der Wein im Glas. Noch sind sie alle zusammen. Da sagt Jesus: „In dieser Nacht werdet ihr euch alle ärgern über mich.“ Werdet euch abwenden, irre werden,
werdet verletzt sein, beleidigt. Als sie das hören, bleibt ihnen der letzte Bissen im Hals stecken. „Ich niemals!“, ruft Petrus und braust wie immer ein bisschen auf. Aber Jesus redet einfach
weiter: „Die Menschen werden euch hassen, weil sie mich hassen.“ Die Worte stehen wie Gewitter im Raum. Aber noch entlädt sich nichts. Wieso Hass?, denkt Petrus. Woher kommt dieser Hass?
Alle schlafen. Obwohl man jetzt wach sein müsste. Der Sturm zieht auf. Seit Tagen schon. Wer Ohren hat, der höre. Zusammen könnte man das Schlimmste verhindern. Aber so schlimm wird es schon
nicht werden, oder? Es wird schon gut gehen. Ist bisher immer gut gegangen. Alle schlafen, Jesus betet. Allein. Beten ist Protest, der zum Himmel schreit. „Wacht auf!“, möchte man den anderen
zurufen. „So wacht doch auf, ihr Narren! Habt ihr schon vergessen, was mit Johannes dem Täufer passiert ist? Habt ihr vergessen, wie sie seinen Kopf auf einem Tablett präsentiert haben? Das ist
kein Einzelfall.“
Mitternacht:
Sie kommen. Sie kommen, ihn zu holen. Mit Schwertern und mit Stangen kommen sie. Petrus will kämpfen. „Was auch immer geschieht, ich halte zu dir“, hatte er versprochen. Jetzt ein Held sein, er
zieht die Klinge und sticht zu – aber Jesus greift ihm ins Messer. „Lass gut sein“, sagt er. „Steck die Waffe weg. Du wirst wen verletzen.“ Und dann sagt er noch: „Wer zur Waffe greift, wird
durch die Waffe umkommen.“ Sie führen Jesus ab, und er geht mit, widerstandlos. Warum?, will Petrus schreien. Warum?, will Judas schreien. Wo ist das Wunder, das du versprochen hast?
Freitag in aller Frühe:
Der römische Statthalter Pilatus verspeist ein Hühnerbein, als sie ihm den Angeklagten bringen: Störung der öffentlichen Ordnung. Aufwiegelung und Amtsanmaßung. Darauf steht die Todesstrafe.
Aufwiegler werden gekreuzigt. Das schreckt ab. Pilatus will die Sache schnell erledigen. Hauptsache kein Aufruhr. Denn Pilatus will Karriere machen. Der Rest ist ihm herzlich egal.
Pilatus mustert diesen Jesus. Er könnte ihn retten. Das wär mal was. Irgendwas imponiert ihm an dem. Stellt sich hin und sagt: Ich bin König. Drollig irgendwie. Tut keinem was zu leide. Das
bringt die Leute zur Raserei. Von draußen ist das Gebrüll zu hören. Pilatus befiehlt, die Fenster zu schließen. Er findet Kreuzigungen barbarisch. Etwas für den Pöbel.
Mit diesem Jesus könnte man sich vielleicht unterhalten. Er hält ihm ein Hühnerbein hin. Keine Reaktion. Schade. Wenn man den Gerüchten Glauben schenkt, soll dieser Jesus dem Genuss nicht
abgeneigt sein. Und dabei als Redner talentiert. Etwas Abwechslung. Pilatus wischt sich die Finger an der Serviette ab und rülpst dezent. Die Schreie draußen werden lauter. Nützt ja nichts, denkt
er und geht hinaus.
Freitag, kurz nach Sonnenaufgang:
Pilatus tritt vor die Menge. Eine anonyme Masse. Er hat aufgehört, in Gesichter zu sehen. Für ihn sehen sie alle gleich aus. Ihre Wut und ihr Hass schlagen ihm entgegen wie ein Feuersturm.
Pilatus kann das nicht nachvollziehen. Einer wie er braucht keine Wut. Er setzt ein gütiges Gesicht auf und bietet ihnen Gnade an. Großherzige Gnade: „Den da“, sagt er und zeigt auf Jesus, „oder
Barrabas. Wen soll ich laufen lassen?“ Jesus, den Rebellen, der an den Himmel glaubt, oder Barrabas, den verurteilten Verbrecher. Einen, der nicht mal Worte als Waffe benutzt, oder einen Mörder.
„Barrabas!“, rufen sie. Immer wieder: „Barrabas!“ Sterben soll der andere. „Was hat er getan?“, fragt Pilatus. Aber seine Frage geht unter im Geschrei des Mobs: „Kreuzigt ihn! Kreuzigt ihn!“
Barbaren, denkt Pilatus und geht hinein, um sich die Hände zu waschen.
Freitag, gegen Mittag:
Die Soldaten hämmern Nägel ins Kreuz. Mitten durch die Handgelenke, später auch durch die Fußgelenke. Sie können das gut, ihre Schläge sind schnell und kräftig. Die Schreie könnten Tote
aufwecken, aber sie hören sie nicht mehr. Der da ist nur noch ein Bündel Fleisch. Da, wo das Gesicht war, ist Blut. Die Folter gehört zur Strafe.
Sie haben getrunken, vielleicht sind auch Drogen im Spiel, das nimmt niemand so genau. Irgendwer muss die Drecksarbeit machen. Sie tun nur ihre Pflicht, und irgendwas wird schon dran sein.
Unschuldig sind die doch alle nicht. Außerdem gibt es Zulagen, sie spielen um die Kleider der Verurteilten, weil wer da oben hängt, der braucht nichts mehr zum Anziehen – die Blutflecken
kriegst du eh nicht mehr raus – haha! Wer die härtesten Witze macht, kriegt einen Schnaps.
Freitagnachmittag:
Jesus hängt am Kreuz. Die Menge hat sich zerstreut, der Sturm ist gestillt. Jetzt kommt nichts mehr, außer dem Tod. Die Frauen bleiben. Können nichts tun, aber bleiben. Die Frauen haben auch
Namen, das vergisst man schnell. Dreimal Maria: Seine Mutter. Seine Tante. Und Maria aus Magdala, seine – was eigentlich? Vertraute, Geliebte, Freundin, Verbündete? Sie laufen nicht weg. Es ist
nicht ungefährlich, was sie tun. Man sympathisiert nicht mit Rebellen. Dennoch bleiben sie. Das Dennoch ist ihr Protest. Sie können nichts tun, außer da sein. Das ist so ein Frauending, sagen die
einen. Mitleid nennen es die anderen. Wo ihre Wut ist, wissen wir nicht. Sie ist nicht zu sehen. Vielleicht hat sie sich verwandelt: zu Mut in kleinen Portionen.
Später:
Jesus schreit. Das will man nicht hören. Helden sterben lautlos. Aber Jesus schreit. Schreit seine Ohnmacht heraus. Wo sind die Freunde? Pilatus isst das letzte Hühnerbein. Die Soldaten haben
Feierabend. Der Hass kommt vorbei und lästert: „Hilf dir doch selbst. Zeig, was du kannst.“ Jesus schreit. Meine Wut stimmt ein.
Noch später:
Jesus stirbt. Der Himmel verdunkelt sich.
Gott schweigt. Ewig und drei Tage.
Dann wischt Gott das Blut auf.
Malt damit ein Herz.
Gott sieht rot. Morgenrot.
Am Morgen danach tritt Herr Müller auf die Straße. Es ist still, sehr still.
„Wut“, sagt Gott. „Kenne ich.“
„Du?“, fragt Herr Müller.
„Wut ist enttäuschte Liebe“, sagt Gott. „Aber wer wütend ist, ist noch lebendig. Wer wütend ist, ist noch nicht kalt. Wer wütend ist, dem ist noch nicht alles egal. Du kannst die Wut
zurückverwandeln.“
Herr Müller weiß nicht so recht, wie das gehen soll.
„Durch Übung“, sagt Gott. „Liebe ist die einzige, die dich retten kann. Such nicht im Sturm. Such nicht im Feuer. Warte nicht auf das große Beben. Ich bin der stille, sanfte Hauch.“
Herr Müller ist nicht gut im Spüren. Aber irgendetwas geht ihm gerade unter die Haut.
Kann man auch hören: Gesendet am Karfreitag im Deutschlandfunk, 18. April 2025 ,
Gott ist gestorben.
Mit schwarzen Flügeln fliegt er davon.
Ich bleibe zurück, unruhig,
weil ich nicht weiß, was jetzt zu tun ist.
Wer kümmert sich um die Wildgänse auf den Wiesen?
Wer weiß, wie man ein Herz flickt?
Wer bestellt den Regen?
Wer backt das Brot?
Am Boden ist Totenstille.
Selbst der Wind hält die Luft an.
Du musst atmen, sagt Gott.
Damit sich etwas bewegt.
Als Jesus kommt, gucken alle erstmal in die falsche Richtung. Weil, ein König müsste doch mit einem Privatjet kommen oder mindestens mit einer Limousine (nur Tesla geht jetzt nicht mehr). Vielleicht auch mit der Bahn, weil Jesus so einen Ruf als Öko hat, dann aber wenigstens erste Klasse. Nur: Da kommt nichts. Am Horizont gähnende Leere. Bis von der anderen Seite ein Esel herantrottet, gemächlich, weil hier und da sich noch ein Löwenzahn zum Fressen anbietet.
So ein Esel ist sich der Tragweite seiner Rolle nicht bewusst.
Er versteht auch nicht zu glänzen wie ein Pferd. Aber zum Glück ist sein Reiter geduldig. Wobei – er reitet ja gar nicht. Er sitzt. Besonders majestätisch wirkt das nicht; sitz mal auf einem Esel, die Beine baumeln ins Nichts, und das Tier tut sowieso, was es will. Du brauchst gar nicht erst versuchen, es zu beherrschen. Du kannst froh sein, wenn es läuft. Jesus sieht aus, als koste er die Verwirrung aus. Der Esel trottet am roten Teppich vorbei. Ein Staatsbesuch sieht anders aus, die Anzugträger wissen nicht, wohin mit sich, und auch der Herr Bischof zögert, seinem König zu folgen, wegen der italienischen Schuhe, die sehr empfindlich sind.
Die Leute aber ziehen ihre Jacken aus, werfen Schal und Hemd auf die Straße, brechen Zweige von den Bäumen, jubeln, streuen Blüten und feiern ihn. Sie haben so die Nase voll von den Eitelkeiten der Oberhäupter, Hosianna, rufen sie. Endlich einer, der sich nicht so wichtig nimmt.
In den Abendnachrichten kein Wort von ihm, nur Krieg und Kämpfe um Macht und Eier, und ein paar Gockel sind auch zu sehen. Aber wer will sich das schon anschauen? Das Leben findet woanders statt. Selig sind die Narren, ruft Jesus, denn sie werden die Ordnung auf den Kopf stellen. Ihnen gehört das Himmelreich! Ob das zu sagen nicht gefährlich sei, fragen einige. Man höre immer häufiger von Zensur, von Repressionen, von Schlimmerem, mit dem zu rechnen sei.
Aber sowas hat Jesus ja noch nie gestört.
Ich mag das rote Radio in meiner Küche. Ich mag den Schaukelstuhl und das glitzernde Kaninchen, das auf meinem Schreibtisch steht. Aber lebenswichtig ist das alles nicht. Bisher musste ich mir noch nie ernsthaft und existenziell die Frage stellen, was lebenswichtig ist. Zum Glück. Weil ich in einem Land lebe, das so stabil ist, dass ich keine Bombe fürchte, die mir aufs Dach fällt. Weil ich nachts ruhig schlafen kann, ohne dass marodierende Gangs durch die Straßen ziehen. Weil es bei allem, was schiefläuft, Rechtstaat, Demokratie und eine freie Presse gibt. Und Erdbeeren vom Markt. Wenn ich mir etwas wünschen darf, dann ist es die Sicherheit, dass das so bleibt.
„Sorry“, sagt Gott. „Sicherheit gibt es nicht. Was ich dir anbieten kann, ist Vertrauen.“
Das hätte ich mir denken können. Sicherheit versprechen nur die Profiteure der Angst. Aber Vertrauen? Worauf?
„Du bist nicht allein“, Gott sagt. „Erstens bin ich bei dir. In dir drin. Ob du’s glaubst oder nicht. Und zweitens sind da die anderen: Freundinnen und Verbündete. Nachbarn und Zufallsbegegnungen. Eine Tante, die wiederauftaucht oder der freundliche Käseverkäufer auf dem Markt. Wenn die Welt wankt, hilft es, sich aneinander festzuhalten.“
„Amen“, sage ich. Unsicher, aber mutig. Zusammen bleiben wir stabil.
Der Himmel strahlt heute eine gewisse Zuversicht aus,
sage ich.
Jonte nickt. Eine Möwe fliegt vorbei.
Die Möwen, sagt Jonte, sind die Seelen der Matrosen.
Die Möwe kackt auf seinen Kopf. Zum Glück trägt er Mütze.
Die Seele muss sich auch mal erleichtern, sage ich.
Isso, sagt Jonte.
Und dann schweigen wir wieder.