Grün hinter den Ohren

Gott schuf den Wald, damit der Mensch ein Versteck hat. Wissenschaftlich ist das wahrscheinlich nicht haltbar, theologisch auch nicht. Aber es funktioniert trotzdem.

Als erstes brauchst du einen Wald. Einen von der wilden Sorte. Keine Fichtenplantage, wo die Bäume in Reih und Glied stehen und der Boden so aufgeräumt aussieht wie die Garageneinfahrt deines Nachbarn. Das ist kein grundsätzliches Bashing von Holzwirtschaft. Ich liebe mein Eichenbett, und das muss irgendwo gewachsen sein. Aber mindestens genauso wie Bett, Tisch, Schrank brauchen Menschen Verstecke. Tiere sowieso. Such dir also einen Wald, der dicht, wild und so ungezähmt wie möglich ist. Nimm dir einen Nachmittag Zeit und verschwinde. Vergiss die Fitness-App. Lass die Trekkingstöcke zu hause. Dies ist kein Gewaltmarsch. Folge deiner Nase. Komm vom Weg ab. Wag dich ins Unterholz, übe dich im Zehenspitzengang, damit du nichts zertrampelst. Denk dran, dass du Gast bist. Jedes andere Lebewesen hat hier mehr Heimatrecht als du. Selbst die Zecke. Mit langer Kleidung und Insektenspray hältst du sie dir vom Leib. Ihr braucht ja nicht gleich Busenfreund*innen zu werden. Folge einem Bach, bieg hinter der dritten Walderdbeere links ab. Setz dich. Auf einen Baumstumpf, einen Fels, einen dicken Ast – irgendwas findest du. Sei still. Schau, riech, höre. Wachs in dich hinein. Werde wieder grün hinter den Ohren. Vielleicht fliegt ein Eichelhäher vorbei. Vielleicht sagt eine Libelle „Guten Tag“. Vielleicht triffst du Ameisen bei der Arbeit. Sag nicht: kenn ich. Diese kennst du nicht. Menschen lernst du ja auch ständig neue kennen. Sprich ein paar Worte, unterhalte dich. Die Sprache der Ameisen beherrschst du nicht? Als Kind konntest du sie. Erinnere dich. Niemand wird euch belauschen. Geh zurück, wenn die Dämmerung kommt. Dann gehört der Wald seinen Bewohner*innen. Du magst es ja auch nicht, wenn beim Abendessen Mäuse über deinen Tisch laufen. Hinterlass keine Spuren. Nicht mal ein Apfelgerippe. Sich verstecken heißt: unsichtbar sein. 

Du fragst, wer dich eigentlich sucht? Du. Dich selbst. Wer zu sich kommen will, muss manchmal verschwinden.

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