Du sollst nicht töten. Auch nicht im Zug.

Ich fahre viel Zug. Man kann die Zeit im Zug so schön sinnvoll nutzen. Zum Beispiel, um meditieren zu lernen. Man braucht keine horrende Kursgebühr für irgendein Zenkloster aufzubringen, wo es dann doch nur Reis zum Mittag gibt. Eine Fahrkarte reicht, der Meditationskurs ist dann inklusive.

Man steigt also ein, wählt ein Großraumabteil, nimmt eine aufrechte Sitzposition ein und wartet. Meistens eröffnet den Kurs schon nach wenigen Minuten ein Mann (es kann auch eine Frau sein), der zu seinem Smartphone greift und die Mitreisenden mit Details seines Lebens unterhält. Er tut das so laut, damit auch schwerhörige Reisende nicht ausgeschlossen sind. Ich habe schon eine Trennung, mehrere Krankengeschichten, eine Aktientransaktion und allerlei andere Banalitäten mitgehört, die meinen Geist von dem Buch, das ich zu lesen versuchte, abzogen. Und genau da beginnt der praktische Teil des Kurses: Lass dich nicht ablenken. Fokussiere deine Gedanken auf den Buchstaben A und alle folgenden. Vergiss die Welt um dich herum.

Der Handymann wird irgendwann abgelöst werden von einer monoton sprechenden Mitreisenden, die ihre Sitznachbarin über jegliches Unbill des Bahnfahrens zwischen Nordsee und Adria  aufklärt. Sie hat ohrenscheinlich alles selbst erlebt und fährt immernoch Zug. Wer jetzt aufspringen möchte, der Frau an den Kragen gehen und schreien will: Dann steigen Sie doch aus!, kann Seelenruhe lernen. Das gelingt gut mit Atemübungen.

Schließlich wird irgendjemand sein Mittagessen auspacken. Die Zeiten des Butterbrotes sind dahin und Mittag gibt es mittlerweile sowieso den ganzen Tag. Jetzt gilt es, die Ausdünstungen der frittierten Hähnchenflügel als natürlichen Umgebungsgeruch wahrzunehmen ohne

a)    aufgrund plötzlich auftretenden Heißhungers dem Nachbarn das Essen aus der Hand zu reißen oder

b)    aufgrund eines empfindlichen Magens denselben unkontrolliert zu entleeren.

Sicher eine Übung für Fortgeschrittene, bei der es hilft, Lavendel zu visualisieren.

Wer jemals den Nutzen von Meditation in Frage stellte, wird jetzt begreifen: Es handelt sich um eine Fähigkeit zur Alltagsbewältigung. Das meine ich ganz ernst. Diese Übungsfolge nenne ich mentale Verwandlung: die alltäglichen Widernisse des Lebens als Übungen zu betrachten. Zu denken, das hat alles genau so seinen Sinn, nämlich den, dass ich dadurch etwas lernen kann. Allein dieser Gedanke hilft, ohne handgreiflich zu werden, durchs Leben zu kommen. Und das ist es doch, was zählt.

 

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Kommentare: 5
  • #1

    Hedwig (Sonntag, 18 Oktober 2015 13:04)

    Vollkommener ist es nicht zu beschreiben. Vielen herzlichen Dank lieber Mensch*

  • #2

    Elke (Sonntag, 18 Oktober 2015 19:11)

    Ich habe sehr gelacht !

  • #3

    Kathy (Montag, 19 Oktober 2015 09:00)

    Schon genauso erlebt und wahrscheinlich wieder, aber diesmal mit einem entspannten Lächeln, Bauchatmung und dem Wissen, das Leben lehrt mich gerade was. Vielleicht ist es eine gute Idee, diesen Text zu vervielfältigen und an die Reiseinformation der DB zu heften, liebe Susanne.

    Freu mich, dich hoffentlich morgen in Stuttgart wieder zu sehen. :-)
    Kathy

  • #4

    Ana (Freitag, 23 Oktober 2015 10:07)

    Freu...
    Erinnert mich an die Idee von Gunther Schmidt: wenn ein Handy im Zug klingelt, nicht mehr (so oft) die Augen zu verdrehen. Sondern sich durch das Klingeln erinnert fühlen, dass es sehr gut tut, gerade jetzt dreimal ganz tief und langsam ein- und auszuatmen.
    Seitdem freue ich mich über jedes Handyklingeln... und andere bis dato als nervend bewertete Geschehnisse...zumindest immer öfter...
    Schönes Wochenende!

  • #5

    Dorothee (Freitag, 06 November 2015 12:46)

    Da fällt mir das Zitat ein: Reisende sind Menschen, die ihr Leben in vollen Zügen genießen :-)

 

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