Wild und frei

Wir sitzen im Boot und der Wind zaust die Bäume. Der Himmel ist so blau. In diesem Moment bist du da. Ich könnte dich niemandem erklären, wollte es auch gar nicht. Ich habe keinen Namen für dich und erst recht kein Bild. Manchmal tauchst du mit einer Wucht in meine Gegenwart, die mich wanken lässt. Ich halte das Paddel still und mein Gesicht in deine Richtung. Das Wasser schwappt gegen den Bug und wir wippen zusammen auf den Wellen. Ich höre das Glucksen, sonst nichts. 

Wir reden nicht, ohnehin reden wir selten. Worte sind zwischen uns eher eine Krücke. Ich brauche sie, wenn es mir schlecht geht. Dann rufe ich dich, dann sage ich „lieber Gott“, in Ermangelung einer anderen, einer besseren Anrede. Aber vielleicht ist sie auch gar nicht schlecht, sie drückt Nähe aus und etwas Zärtliches. Anders kann ich dich nicht denken, weil ich dich anders nicht erlebe. Wenn du fern bist, sehne ich mich nach dieser Nähe. 

Ich habe Gebete gelernt. Liebergottmachmichfrommdassichindenhimmelkomm war mein erstes. Es fühlt sich nach Daunenbett an und riecht ein wenig nach Mottenkugeln. Damals holte Oma dich dazu, wenn sie kam und mir Gute Nacht sagte. Ich hatte keine Ahnung, wer du bist, aber Oma schien es zu wissen und das reichte. Sie holte dich, damit ich besser schlafen konnte und vielleicht auch, damit der Marder mir weniger Angst machte. Ich lernte dich also im Bett kennen. Kann sein, dass das unsere Beziehung prägt. 

Später lernte ich mein erstes Erwachsenengebet. Vaterunser murmelten alle zusammen, das klang ernst, und wenn es gut lief, auch feierlich. Alle konnten es, nur ich musste es erst lernen. Ich fühlte mich wie eine Nachzüglerin, als hätte ich die ersten Jahre geschwänzt, hätte zuviel in den Wiesen gespielt, Frösche gejagt und Blaubeeren gepflückt, während die anderen in der Kirche saßen. Ich hörte, dass dieses Gebet wichtig sei, weil es alle schon immer beten. Alle sind eine ziemlich große Menge, dagegen kann man nicht an. Also murmelte ich mit. Am besten gefiel mir die Zeile von der Kraft und der Herrlichkeit in Ewigkeit; nicht, weil es die letzte war, sondern, weil sie wie ein Zauber klang. Wie eine Beschwörungsformel, der ich mich auch heute nicht entziehen kann und du dich ja vielleicht auch nicht. Ich lasse mich gern von dir verzaubern. 

Dann kamen die anderen, die sogenannten freien Gebete. Sie haben keinen Reim und keinen Rhythmus, man sagt einfach, was einem gerade einfällt. Meistens sind es Dinge, die du tun sollst. Vorher bedankt man sich für irgendetwas, ich nehme an, es handelt sich dabei um einen Akt der Höflichkeit. Sie werden laut gesprochen, andere hören, was ich dir sage, das war mir immer schon ein bisschen peinlich (und dass es mir peinlich ist, ist mir auch peinlich.) Vielleicht geht es dir ähnlich. Jedenfalls traf ich dich bei diesen Gebeten nur selten, meistens wartetest du draußen. Ob du nicht reinkommen willst, habe ich gefragt, aber du hast nur den Kopf geschüttelt und mir ein paar Kirschen entgegengehalten. Weil du mich kennst. Weil du weißt, dass ich lieber mit dir Kirschen esse, als die Worte da drinnen zu schlucken, die immer ein bisschen nach Gebrauchsanleitung klingen. Tu dies, tu das, denk an jenes. Sie flirten nicht, sie verhandeln, aber das vertraue ich nur dir an, weil ich ahne, dass nicht jeder versteht, was ich meine. 

Dass du mich verstehst, daran glaube ich. Weil wir zusammen durch die Felder gestreift sind. Haben Ähren gerauft und uns Weizenkörner auf die Zunge gelegt und Worte, an denen wir uns nicht die Zähne ausgebissen haben. Wir haben zusammen an Papas Grab gestanden, ich glaube, du hast geweint. In der Nacht haben wir mit den anderen zur Gitarre gesungen, der Mond schien, und ich dachte, wie schön du singst. Wir haben getanzt bis in den Morgen, Schweiß glänzte auf unserer Haut. Zusammen haben wir Weihrauch gerochen und Leuchtalgen durch die Hände gleiten lassen. Wir haben unterm Nordlicht gestanden, Träumende gesehen und nicht aufgehört zu staunen.

Du bist wild und zärtlich und unendlich frei. Damit lockst du mich. Du holst mich hinaus ins Weite. Meine Sprache endet bei dir. Du bist nicht Vater und nicht Mutter für mich. Du bist kein „Er“, du bist nicht „Sie“ und schon gar nicht bist du „Es“. Du bist jenseits aller Definitionen. Du bist. Unsere Schultern berühren sich manchmal, dann lehne ich mich hin zu dir und bewege mich nicht, solange der Moment dauert. Ich liebe ihn. Ich will ihn festhalten. Ich will dich festhalten, will mein Zelt aufschlagen für uns, will aus dem jetzt ein ewig machen. Ich musste lernen, dass du dich nicht festhalten lässt. Darin bist du eindeutig. Ich habe dich nicht in der Hand. Aber du kommst wieder. Darauf vertraue ich, ich vertraue darauf, dass wir zueinander gehören, ohne uns ständig unseres Daseins versichern zu müssen.

Manchmal rufe ich dich. Flüstere in der Nacht mit lautloser Stimme deinen Namen. Sage dir ein paar Sätze, Geheimnisse oft. Du bist der einzige, dem ich sie alle anvertraue. Meistens schlafe ich darüber ein und dann bis ich doch wieder im Daunenbett. Ich schlafe gern in deiner Gegenwart.

Wie andere mit dir reden, weiß ich nicht. Wahrscheinlich treffen sie dich an anderen Orten, in Kirchen oder Hörsälen, an Tankstellen oder Krankenbetten, beim Stricken oder Bingospielen. Ich weiß, dass du auch da bist, wo ich nicht bin. Dass du an Orten bist, die mir fremd sind. Wo du mir fremd bist. Das ist gut so. 

Ich könnte mich sonst zu sehr an dich gewöhnen.

 

in: Andere Zeiten 3/2019, Buß- und Bettag

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Kommentare: 5
  • #1

    Gabi K. (Mittwoch, 20 November 2019 09:11)


    liebe Susanne,
    danke für diesen wunderbaren Text, der mir sehr nahe geht.
    ich wünschte, ich könne meine Gedanken auch so ausdrücken.
    Alles Gute und weiter so
    Gabi

  • #2

    Elisabeth (Mittwoch, 20 November 2019 19:51)

    Danke für diesen Text.
    Ich habe ihn im Magazin gelesen und danach voller Herzenskraft geteilt .... so gute Worte, jeder Satz, so passend für mich, so ein tolles Gefühl, dass es anderen vielleicht auch noch so geht.
    So ist auch mein "lieber Gott"!

    Danke für Ihre große Gabe! Ich freue mich auf alles Weitere. Herzliche Grüße

  • #3

    Alexandra K. (Mittwoch, 20 November 2019 22:03)

    Es tut so gut zu merken, dass noch jemand so einen Gott erfahren hat, .... und dies in so schöner Form zu Papier bringen kann! Wir sind ... unsere Worte!

  • #4

    Tobias (Donnerstag, 21 November 2019 14:34)

    ...genauso ist auch mein Lieber Gott, dankeschön dafür, dass Sie das schreiben, was ich so nicht ausdrücken könnte!
    Was für ein großartiger Text!

  • #5

    Silvia (Dienstag, 30 März 2021 15:15)

    Ach, liebe Susanne, ihre Worte sind wie Apfelkuchen: Warm, vanillig, einhüllend. Sehr fein.

 

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