Und. ein Hoch auf die Gleichzeitigkeit

Ich stelle mir vor: ein Tag, an dem alle anziehen, wovon sie insgeheim träumen. Wie Karneval, nur in echt. Sibylle zum Beispiel trägt ein Kleid aus 943 Federn, die hat sie alle eigenhändig angenäht. Weil sie sich mal wie ein Vogel fühlen will. Paul trägt Pailletten zum Blaumann. Igor trägt wie immer Jeans und Wollpullover, weil er sich darin am allerwohlsten fühlt und zutiefst Igor ist. Frau Piepental hat ihren Petticoat rausgeholt und niemand sagt: Na wissen Sie, in Ihrem Alter…

Es gibt Könige und Draufgängerinnen, es gibt Nietenhosen und Zweireiher, Kopftücher und Knickerbocker, es gibt grau und rosa. Es gibt Kippa und Krawatte, und Josef steht in seinem Prinzessinnenkleid dazwischen und fällt überhaupt nicht auf, weil er dazugehört. So wie alle dazugehören. Und nein, es geht nicht darum, wer am grellsten leuchtet. Es geht einfach nur ums Sein. Und niemand haut das eigene Sein anderen um die Ohren.

Und Gott schaut sich das an und findet es gut. Das glaube ich zumindest, auch wenn ich es natürlich nicht weiß. Kein Mensch weiß, was Gott denkt, sagt, will, tut. Ich stelle mir vor, wie Gott zwischen all den bunten Menschen steht und sich verbeugt. Das irritiert, also passt es zu Gott. Gott irritiert oft.

Ein paar Leute machen es nach. Sibylle verbeugt sich vor dem Knickerbockerträger, Igor verbeugt sich vor einem kleinen Mädchen mit Hut. Ein Punk verbeugt sich vor Oma Grete, eine Polizistin verbeugt sich vor einer Linksalternativen und umgekehrt, ein Golden Retriever verbeugt sich vor einer misstrauischen Katze.

Einfach aus Respekt vor seinem oder ihrem Sein. Auch vor ihrem Anders-Sein. Eine Verbeugung ist eine kurze Geste. Wer in ihr verharrt, buckelt. Darum geht es nicht. Sondern darum, einander groß zu machen. Wechselseitig und abwechselnd. Anzuerkennen: Du bist anders. Ich bin anders. Und wir gehören als Menschen trotzdem zusammen. Wir werden einen Weg finden, nebeneinander zu leben, ohne einander in den Schatten zu stellen.

aus: Am Sonntagmorgen. Deutschlandfunk.


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Kommentare: 3
  • #1

    Gundolf (Dienstag, 05 März 2024 19:27)

    Ja, das war eine Überraschung, am Sonntagmorgen Susanne Niemeyer zufällig im Radio zu finden. Und Gott wollte, dass ich genau zum Beginn des Beitrages auf Deutschlandfunk wechselte. Danke.
    Auch die Musikschnipsel fand ich sehr passend.

  • #2

    Sigrid Bayer (Sonntag, 10 März 2024 13:11)

    Wow! Was für ein inhaltsreicher Text- danke�����♥️

  • #3

    Elisabeth (Montag, 25 März 2024 13:30)

    Das war ein spannender, packender Beitrag mit überraschenden Einsichten. Die Joseph-Geschichten sind für mich soundso fesselnd. Und meinen extra Dank, dass es ohne Gendern ging. So wurde die schöne Konzentration nicht gestört.

 

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