Das schöne wilde Leben

Mit mir sieht es so aus: Ich mag mein silbernes Wählscheibentelefon und gleichzeitig preise ich Facetime. Manchmal kaufe ich einen Pullover von Marc O’ Polo und frage mich, wieviel von dem horrenden Preis bei der Näherin ankommt. Ich habe kein Auto und unterschreibe Petitionen, um die Welt besser zu machen. Trotzdem bin ich letztes Jahr nach Gomera geflogen und fand es toll. Das sind die Widersprüche des Seins. 

 

Ich glaube, zu den Hauptaufgaben des Lebens gehört es, mit diesen Widersprüchen klar zu kommen. Ihnen weder gleichgültig gegenüber zu stehen, noch daran zu zerbrechen, keine Heilige zu sein.

Ich bin mal für ein paar Tage ins Kloster gefahren. Zwischen Weihrauch und Apfelbäumen dachte ich über das Leben nach und warum ich es nicht schaffe, regelmäßig Yoga zu machen, den Computer zu gegebener Zeit auszuschalten und zu handeln statt zu hadern. Ich weiß, es gibt existenziellere Probleme, aber die Frage ist doch: Warum lebe ich nicht das Leben, von dem ich weiß, dass es mir gut tut? Stattdessen dient sich die Trägheit als beste Freundin an und die Völlerei schiebt Choco Crossies rüber.

Ich klagte einem Mönch meine Unzufriedenheit, aber es schien ihn nicht weiter zu überraschen. Ihm ginge es auch oft so. Jetzt war ich überrascht. Ein Mönch, hätte ich gedacht, wird doch wohl eine Art Fachmann sein, was bewusstes Leben angeht. Aber er sagte nur: „Die Hauptsache ist, dass man sich immer wieder ausrichtet.“

Ich stellte mir eine Kompassnadel und den Nordpol vor, also mich und das gute Leben, und wenn ich hin und wieder nachgucke, ob die Richtung noch stimmt, dann ist alles gut. Das schien eine sehr praktikable Formel zu sein.

Das erste Mal nahm ich bewusst einen solchen Kompass in die Hand, als ich sechzehn war. Gerade hatte der erste Dönerladen in unserer Kleinstadt aufgemacht, das war ein Ereignis. Zeitgleich hatte ich mit meiner besten Freundin beschlossen, in der Fastenzeit Fleisch zu entsagen. Ich war eine echte Fleischfresserin. Wenn die Augen anderer bei Gummibärchen oder Lakritze leuchteten, wollte ich ein Schnitzel. Aber ich hatte einen Film über Massentierhaltung gesehen, und das war stärker als meine Fleischeslust.

Am Vorabend des Aschermittwochs aß ich also den ersten Döner. Es blieb mein einziger. Er schmeckte köstlich. Aber ich konnte hinterher, nach Ostern, trotzdem nicht wieder anfangen, Fleisch zu essen. Die erste Fastenzeit meines Lebens hatte mein Leben verändert.

 

„Eigentlich bin ich ganz anders, nur komme ich so selten dazu“, schrieb Odön von Horvath. Manchmal überkommt mich die Angst, mein ganzes Leben im Eigentlich-Modus zu leben und plötzlich klopft der Tod an die Tür und ich rufe entsetzt „noch nicht“, aber er zieht eine Augenbraue hoch und antwortet: „Du hattest doch alle Zeit der Welt.“

In der Bibel steht irgendwo der Satz, wir sollen bedenken, dass wir sterben müssen, damit wir klug werden. Das ist keine Drohung. Das ist eine Erinnerung: Wie willst du leben? Was macht dich glücklich? Wozu bist du auf der Welt?

Die Fastenzeit holt diese riesigen Fragen in den Alltag. Bitteschön, sagt sie, probiere es aus. Für das schönere, bessere, wildere, für das echte Leben. Du bist so frei.

 

(erschienen im Andere Zeiten Magazin 1/2015, gekürzt)

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Kommentare: 2
  • #1

    Gerd (Montag, 26 Januar 2015 14:58)

    Spricht mir total aus der Seele. Bester Text ever zum Thema Fasten(zeit), Frau Niemeyer. Schön, dass es Sie (und Ihre Texte) gibt! Döner & Currywurst werde ich aber trotzdem auch weiterhin essen...;-)

  • #2

    Susanne Niemeyer (Montag, 26 Januar 2015 17:58)

    Dankeschön! Dummerweise kann ich lauteren Herzens auch geschmacklich keine Tofuwürstchen empfehlen... Aber vielleicht bio ;-)?
    Herzliche Grüße!

 

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