Hoffnung ist ein Wort mit kleinen Buchstaben, denkt Alma. Weil Hoffnung nie so kommt, wie man denkt. Höchstens ganz anders. Und weil das so ist, lautet die erste Lektion: Gib alle Hoffnung auf. Und hoffe tapfer weiter. Alma übt das seit sechsundneunzig Jahren. Sie hat einen Krieg überlebt und einen Mann. Alma sitzt jetzt oft kopfschüttelnd vor dem Fernseher, wenn sie die Bilder von den Flüchtlingen sieht. Sie kennt das alles. Selbst musste sie nicht fliehen, aber es kamen welche, damals auf den Bauernhof ihrer Eltern. Es waren Menschen, deren bisheriges Leben ein jähes Ende gefunden hatte.Mitgefühl ist Christenpflicht, so sieht Alma das. Ich war hungrig, hat Jesus gesagt, und ihr habt mir zu essen gegeben; ich war fremd und obdachlos, und ihr habt mich aufgenommen. Gilt das denn nicht mehr? Das ist keine Gefühlsduselei. Alma hat sich noch nie vor den Tatsachen gedrückt. Wer Mitgefühl ausnutzt, muss mit den Konsequenzen leben. Es gibt schließlich Gesetze. Aber Menschen ohne Mitgefühl sind gefährlich. Sie wollen sich nicht hineinversetzen in andere. Wer kein Mitgefühl hat, leugnet die eigene Schwäche, die eigene Bedürftigkeit. Jeder ist klein, irgendwo. Manche spielen einfach Riesen und hoffen, es fliegt nicht auf. Auf einmal grölen die Leute wieder. Rüde zu sein ist salonfähig. Sogar manche von den Politikern vergessen ihre gute Kinderstube. Selbst im Fernsehen. Almas kann das nicht begreifen. Ist ihnen das nicht peinlich? Als ob Beleidigungen Argumente wären. Alma hat nichts gegen Streit. Sie hat oft gestritten mit ihrem Hans, wenn der mal wieder seinen Dickkopf hatte. Manchmal muss man sich auseinandersetzen, immer nur heile Welt, das bringt auch nichts. Aber doch bitte mit Respekt. Man muss sich doch hinterher noch in die Augen sehen können. Was bleibt denn sonst von einer Gesellschaft übrig?
Ich hoffe, denkt Alma, dass ein Wunder geschieht und sich diese Großmäuler wieder kleinlaut zurückziehen. Und zwar nicht, weil ein anderer noch lauter schreit, sondern weil sie ihr Mitgefühl entdecken und erkennen: Wir liegen falsch. Alma hat Mitgefühl. Ich habe großes Verständnis dafür, dass die Leute übers Meer kommen, hat sie letztes Mal trotzig beim Seniorenkaffee gesagt. Weil sie hoffen, etwas Besseres zu finden als den Tod. Die meisten haben wissend genickt. Und das ist die zweite Lektion: Hoffnung verleiht Flügel.Du bist blauäugig, schimpft ihr Sohn. Wo sollen die denn alle hin? Aber Alma versteht die Aufregung nicht. Das werden doch nicht alles Halunken sein. Manche wird man doch brauchen können, letztens zum Beispiel las sie von einem jungen Mann aus Syrien, der jetzt in der Bäckerei anfängt. Als Lehrling. Der Meister ist überglücklich, weil: Wer will denn heute noch Bäcker werden? Alma schüttelt den Kopf. Dann wird es eben anders. Aber kann anders denn nicht auch gut sein?
So geht’s: Miteinander reden und lachen, dabei aber auch einander Achtung erweisen. Mitunter sich auch streiten – ohne Hass, wie man es auch mit sich selber tut. Manchmal auch in den Meinungen auseinandergehen und damit die Eintracht würzen, einander belehren und voneinander lernen, so dass aus Vielheit Einheit wird. (Augustin, 4. Jh)
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