Gehen_Bleiben

Kippe Name, Telefon und Notizbuch aus. Dann ist der Rucksack leer. Ich lasse ihn stehen. „Du musst Wasser mitnehmen“, sagt Olga. 

„Was ich brauche, finde ich unterwegs.“ Ich tue so, als sei ich mir sicher. 

Die Sonne steht schon tief. Man bricht nicht nachmittags auf. Nachmittags kommt man an. Aber ich will nicht länger warten. Wenn ich jetzt nicht gehe, gehe ich nie.

„Warum willst du eigentlich gehen?“, fragt Olga. Ich suche nach Feindseligkeit in ihrer Stimme, doch da ist nichts. Sie hockt auf der Mauer und lackiert ihre Nägel. Sechs Zehen sind schon rot. Olga nimmt immer Rot. Rosé oder Lavendel kommen nicht in Frage. Olga macht keine halben Sachen. Olga würde auch nie weggehen. Sie ist viel zu sehr hier.

Mit ihren Luchsaugen schaut sie mich an. Sie sagt nicht: Bleib. Gehen ist einfacher als bleiben. Hinter jeder Biegung könnte alles anders sein. Ich lebe gern im Könnte. „Das ist alles?“, fragt Olga überrascht. Und dann: „Soll ich deine Zehen auch machen?“

Ich zögere. Lege meine Füße in ihren Schoß. 

Wir wissen beide: Jetzt kann ich nicht mehr gehen. 

Der Pinsel biegt sich bei jedem Strich. Darunter leuchtet es rot. 

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Kommentare: 1
  • #1

    Petra (Montag, 13 Juli 2020 11:26)

    Das ist ein schöner Text, einfach die Fußnägel lackieren lassen und das Aufbrechen sein lassen ... verschieben ... JETZT das Schöne genießen, sich verwöhnen lassen.
    Das andere kann auf der Wiese warten, es läuft ja sowieso nicht weg.

 

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