Dreamer

Matze ist ein Klischee. Sein Schädel ist kahlgeschoren, sein Körper volltätowiert. Am Türrahmen hat er eine Strichliste für alle Nasen begonnen, die er schon gebrochen hat, aber irgendwann hat er den Überblick verloren. Bier ist sein Müsli. Nach einer kurzen, frühkindlichen Findungsphase hat er sich auf Hass spezialisiert. 

Am 29. März spürt er, dass etwas mit ihm geschieht. Und allein das will schon was heißen. Spüren ist nicht Matzes Spezialgebiet. Irgendwas drängt ihn, an Katzenbabies zu denken, und erstaunlicherweise sind es keine Gedanken, die ertränken, erschlagen, anzünden beinhalten. Matze schüttelt sich. Schlägt mit der Pranke ein paar Mal ordentlich gegen seinen Schädel. Aber es geht nicht weg. Als nächstes ertappt er sich dabei, „Imagine“ zu summen. Er wusste nicht mal, dass das Lied in seinem passiven Erinnerungsschatz liegt. „Hä?“, grunzt Matze. „Was’n das für’n Geschwurbel?“ Die Melodie läuft unbeirrt weiter in seinem Kopf. Am Nachmittag schlichtet er Streit, kauft für Tanja ein Bund Margeriten, und als die Verkäuferin fragt, ob er einen Herzanhänger dazu möchte, nickt er beseelt. „Alter“, keucht er. „Ich muss krank sein!“ Zur Probe reißt er ein paar Autospiegel ab. Nichts. Kein Gefühl. Keine Befriedigung, im Gegenteil: Es drängt ihn, ein Entschuldigungsschreiben aufzusetzen. Einer tattrigen Oma hilft er über die Straße, und als sie die vielen bunten Bilder auf seiner Haut bewundert, sagt er artig „danke“. Den Rest gibt ihm eine humpelnde Taube, der er das Bein bandagiert. Matze K. kapituliert. Zum ersten Mal in seinem Leben. „You may say, I’m a Dreamer. But I’m not the only one…“

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Kommentare: 5
  • #1

    Gundolf (Mittwoch, 28 September 2022 22:40)

    Einfach nur wundervoll.
    Danke.

  • #2

    Cordula (Montag, 03 Oktober 2022 09:47)

    In jedem Menschen steckt etwas wundervolles, etwas sanftes, etwas heilendes, Schönheit und Liebe. Einige Menschen haben das Privileg, dass sie diese Werte zeigen und leben können. Bei anderen Menschen sind sie irgendwie, aus ganz unterschiedlichen Gründen, verloren gegangen. Manchmal braucht es nur einen einzigen Windstoß, um die Gerölllawine, die sich darüber gelegt hat, in Bewegung zu setzen. Ein Stein gerät ins Rutschen und andere rutschen nach...und irgendwo dort unten wird es hell.

  • #3

    Christiane (Dienstag, 04 Oktober 2022 17:29)

    Am Samstag hat Heribert Prantl in der Süddeutschen Zeitung einen wunderbaren Artikel über die "Pflicht zur Hoffnung" geschrieben. Deine Geschichte zeigt, was sie kann. Danke!

  • #4

    Antje K. (Mittwoch, 12 Oktober 2022 16:03)

    Jetzt weiß ich wieder was mir gefehlt hat. Ab sofort ist "Freudenwort" wieder meine Startseite:)

  • #5

    Maren (Montag, 19 Dezember 2022 18:29)

    Ich habe die Geschichte gerade im Radio (NDR Moment Mal) gehört und bin begeistert! Vielen Dank für diese hoffnungsvollen Gedanken!

 

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